Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Landesverband Schleswig-Holstein e. V.

© Jürgen Griebel

Fortschritt beim Radverkehr - mit angezogener Handbremse?

Seit fünf Jahren hat Schleswig-Holstein eine eigene Radstrategie. Durch diese sollen bis 2030 deutlich mehr Menschen aufs Rad steigen. Wie trotz eines ernüchternden Zwischenfazits die Radstrategie ihr Potential noch entfalten kann.

Ein Kommentar von Stephanie Meyer, Landesvorsitzende des ADFC Schleswig-Holstein e.V.

Schleswig-Holstein soll Fahrradland werden. Diese Forderung, die der ADFC seit Jahren proklamiert, griffen die Abgeordneten des Landtages im September 2020 auf und beschlossen einstimmig mit der Radstrategie „Ab aufs Rad im echten Norden - Die Radstrategie Schleswig-Holstein 2030“ ein ausführliches Maßnahmenpapier zur Radverkehrsförderung im nördlichsten Bundesland. Das Papier war in den Jahren zuvor von zwei renommierten Gutachterbüros unter intensiver Beteiligung von Verbänden, Institutionen und Wissenschaft erarbeitet worden. Die Ziele - ambitioniert: 30 Prozent Radverkehrsanteil im Alltagsverkehr (Modal Split) bis 2030, die Zahl der verunfallten Radfahrenden sollte halbiert und Schleswig-Holstein aufs Podest unter die drei beliebtesten Flächenbundesländer im Radtourismus gebracht werden.

Endlich Bewegung: Mehr Geld und Personal für den Radverkehr!

Es dauerte bis 2022, doch dann wurden im Landeshaushalt endlich zusätzliche Gelder eingestellt und Personal bewilligt: Das zuständige Referat fürs Fahrrad im Verkehrsministerium erhielt seit 2021 stufenweise vier zusätzliche Personalstellen, der Landesbetrieb für Straßenbau und Verkehr ab 2023 eine eigene Stabsstelle Radverkehr mit fünf Stellen. In der Zwischenzeit etablierte sich mit RAD.SH ein Akteur, um das Fahrrad in den kommunalen Verwaltungen zu fördern, und das Land richtete mit dem sogenannten mobiliteam eine Beratungsstelle für nachhaltige Mobilität bei NAH.SH ein. Mit dem Landesweiten Radverkehrsnetz (LRVN) schuf das Land eine wichtige Grundlage für den Ausbau der Radwege im gesamten Bundesland.

Dass die Landesregierung seit diesem Jahr Kreise bei der Schaffung von zusätzlichen hauptamtlichen Stellen für Radverkehrs-
planer*innen finanziell unterstützt, ist ein wichtiger Schritt. Auch nicht unerwähnt darf gelassen werden, dass das Land 2024 eine langjährige ADFC-Forderung umsetzte: Zehn Euro pro Bürger*in pro Jahr für Radinfrastruktur durch das Land!

Von Modal Split, Verkehrssicherheit und Tourismus: Zielerreichung durchwachsen

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen in Hinblick auf die Zielerreichung ist leider ernüchternd: Der Anteil des Fahrrads am Alltagsverkehr lag 2017 bei 13 Prozent, sieben Jahre später ist der Anteil auf nur 15 Prozent gestiegen. Das bedeutet auch: In den nächsten fünf Jahren muss sich die Zahl auf 30 Prozent verdoppeln! Dass sich die Bemühungen noch nicht in den Zahlen widerspiegeln, könnte vielleicht daran liegen, dass die Gelder noch nicht auf der Straße angekommen sind. In den größeren Städten wie Kiel und einzelnen anderen Orten scheint man zumindest auf einem guten Weg. Doch fährt man etwas hinaus, in ländlichere Gebiete oder Vororte, ist man oftmals noch auf alten, kaputten und schmalen Radwegen unterwegs, muss unübersichtliche Kreuzungen queren, holpert über Wurzelaufbrüche vor sich hin – oder muss sich gleich auf die Straße wagen. Spaß und vor allem Sicherheit auf dem Rad sehen wohl anders aus.

Sicher unterwegs? Konzept lässt auf sich warten

Apropos Verkehrssicherheit: Das Ziel der Radstrategie – die Unfallzahlen der Schwerverletzten und Toten zu halbieren – scheint in weiter Ferne, schaut man sich die aktuellen Statistiken an. Jedes dritte verunfallte Kind in der Altersgruppe der zehn- bis unter 15-Jährigen verunglückte mit einem Fahrrad. Es gab 5.137 Radfahrunfälle, 15 Radfahrende verunfallten tödlich. Die Unfälle passieren überwiegend dort, wo der Radverkehr auf den Autoverkehr trifft. Wie jedes Jahr müssen wir zu viele Tote und Schwerverletzte im Straßenverkehr beklagen. Leider sind auch wieder viele Radfahrer*innen darunter (Quelle: Verkehrssicherheitsbericht Schleswig-Holstein 2024). In der Radstrategie ist im Handlungsfeld “Verkehrssicherheit“ zwar als erste und wichtigste Maßnahme die „Entwicklung eines landesweiten Verkehrssicherheitskonzeptes“ genannt – passiert ist in den vergangenen fünf Jahren allerdings wenig. Vielmehr orientierte man sich in der Praxis an althergebrachten Maßnahmen. Nun wurde von diesem Vorgehen abgewichen und ein Planungsbüro mit einer Evaluierung beauftragt und dabei analysiert, wie sich die präventive Verkehrssicherheitsarbeit verbessern ließe. Wenn Schleswig-Holstein Fahrradland werden möchte, müssen sich allerdings deutlich mehr Menschen auf dem Rad sicher fühlen. Wir brauchen selbsterklärende und fehlerverzeihende Infrastruktur, damit Radfahrende nicht mehr einfach so „übersehen“ werden.

Nur im Bereich des Radtourismus konnte Schleswig-Holstein sich in der ADFC-Radreiseanalyse auf Platz sieben verbessern, ist damit aber noch sehr weit von den Spitzenplätzen entfernt. Mit der Befahrung aller 13 Radfernwege, der Entwicklung des Ochsenwegs zur Qualitätsradroute sowie der Schlei-Region und des Herzogtums Lauenburg zu Radreiseregionen sind wichtige Projekte auf den Weg gebracht. Besonders erfreulich dabei ist, dass Schleswig-Holstein in der Kategorie „Radfahren im Urlaub“ bundesweit auf Platz zwei liegt.

Relativierend ließe sich bezüglich der Ziele nun anführen: Das Verkehrsaufkommen insgesamt ist so hoch wie noch nie. Und Radverkehrsprojekte liegen selten baufertig in den Verwaltungsschubladen, d.h. bis zur Realisierung braucht es Zeit.

Knappe Kassen und fehlendes Personal hemmen Radverkehr in den Kommunen

Genau dort, bei der realen Umsetzung inden Kreisen, Städten und Gemeinden, liegen auch die größten Hürden für eine erfolgreiche Umsetzung der Radstrategie. Den Kommunen fehlen die finanziellen Mittel und das notwendige Fachpersonal zur Projektumsetzung. Wegen der hohen Anzahl an Pflichtaufgaben fehlen dann die Eigenmittel für die Umsetzung des Radweges oder der Radabstellanlage. Darüber hinaus sind die Planer*innen und Ingenieur*innen mit vielfältigen anderen Aufgaben im Tief- und Hochbau befasst. Einige Städte und Kreise kürzen bereits aufgrund knapper Kassen Planungen, Personal und Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs.

Neues Straßenverkehrsrecht zügig anwenden!

Hinderlich war in der Vergangenheit auch häufig das alte Straßenverkehrsrecht. So manche Kommune musste erleben, dass ihre im Radverkehrskonzept geplante Fahrradstraße vom Kreis nicht genehmigt wurde. Die Änderungen des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), der Straßenverkehrsordnung (StVO) und der Verwaltungsvorschrift (VwV-StVO) seit 2024 schaffen neue Möglichkeiten - und Rechtssicherheit - für den Radverkehr in den Kommunen und Kreisen.

Ausbildungskapazitäten verbessern, Kommunikation verschlanken, Radverkehr fördern

Damit der Radverkehr auch in den Kommunen und Kreisen ins Rollen kommt, muss das Land weitere Rahmenbedingungen verbessern: In Schleswig-Holstein werden zu wenige Bauingenieur*innen ausgebildet. Wer nicht hier studiert, wird sich vielleicht seltener für einen Job in einer schleswig-holsteinischen Gemeinde entscheiden. Die Landesregierung könnte dem mit speziellen Radverkehrsprofessuren begegnen, die die Attraktivität unserer Studiengänge erhöhen. Hochschulen in anderen Bundesländern haben damit gute Erfahrungen gemacht.

Auch bei Neuerungen im Straßenverkehrsrecht und der Kommunikation rund um die Radverkehrsförderung gehen andere Bundesländer mit gutem Beispiel voran, wie beispielsweise Baden-Württemberg. Dort werden alle Informationen rund um Fuß- und Radverkehr auf einer eigenen Homepage gebündelt. Interessierte Kommunalpolitiker*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen finden Informationen zu Fördermitteln, guten Beispielen und aktuellen Entwicklungen übersichtlich aufbereitet. Zugleich wird verständlich vermittelt, was das „Ländle“ von den Kreisen, Städten und Gemeinden wünscht.

Umsetzung der Radstrategie ist  Gemeinschaftsaufgabe

Mit der Landesradstrategie und dem LRVN gibt es jetzt wichtige Arbeitsgrundlagen zur Förderung des Radverkehrs. Nun braucht es für die nächsten fünf Jahre des Umsetzungszeitraums eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Akteure. Die Landesregierung könnte hier nachsteuern und Kreisen und Gemeinden noch stärker unter die Arme greifen und mit Vorlagen unterstützen, Hilfsangebote und Förderungen klar und transparent kommunizieren und alle Möglichkeiten verständlich aufbereitet und auffindbar bereitstellen. Mit RAD.SH und dem mobiliteam bei NAH.SH, die bereits wichtige Unterstützungs- und Kommunikationsarbeit leisten, oder auch der Stabsstelle Radverkehr im Landesbetrieb für Straßenbau und Verkehr gibt es etablierte Akteure, die gewichtige Aufgaben im Namen des Landes übernehmen könnten, um dem Radverkehr die notwendige Sichtbarkeit und Unterstützung in den Kommunen zu bieten.

Wir können die Radstrategie nur gemeinsam zum Erfolg führen und Schleswig-Holstein zum Vorbild für nachhaltige Mobilität machen. Radverkehrsförderung ist nichts für Einzelkämpfer*innen, sondern eine Gemeinschaftsaufgabe!

Noch mehr Artikel zum Thema “Fünf Jahre Radstrategie” findest du oben rechts im Kasten verlinkt.

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https://sh.adfc.de/artikel/fortschritt-beim-radverkehr-mit-angezogener-handbremse

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