Das größte Fahrradparkhaus der Welt in Utrecht. © CU2030.nl

Einmal Fahrradland und zurück

Wie kann fahrrad- und damit auch klima- und menschenfreundliche Stadtplanung gelingen? Das wollten wir, sieben Mitglieder des ADFC Wentorf/Börnsen, herausfinden und reisten Anfang Mai ins Fahrradwunderland Niederlande.

Unsere Reise starteten wir in der Gemeinde Houten, die in zwei geplanten Bauabschnitten ab 1966 von zunächst 6000 auf 30.000 Einwohner*innen und anschließend auf die heutige Größe von knapp 50.000 Einwohner*innen erweitert wurde. Dabei hat die Stadtplanung die Grundsätze, dem Lebensraum menschliche Dimensionen zu geben, von Beginn an verfolgt. Dazu gehören Platz für spielende Kinder, Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Das heutige Stadtbild von Houten gibt diesem Anspruch Recht: Houten wurde vom niederländischen “Fietsersbond”, einer Radfahrenden-Vereinigung ähnlich dem ADFC, 2019 bereits zum dritten Mal zur Fahrradstadt des Jahres gekürt. 

Bei einer etwa zweistündigen Radtour in Begleitung des Radbeauftragten der Gemeinde Houten und des Vorsitzenden der Fietsersbond-Ortsgruppe konnten wir uns überzeugen, dass hier eine sehr hohe Lebensqualität herrscht, die Wohngebiete auffallend leise sind, zum Spielen und Verweilen einladen und die Erreichbarkeit der Wohnungen, Schulen, Sportstätten und Versorgungszentren mit allen Verkehrsmitteln dennoch gewährleistet ist.

 

Die Beschilderung weist darauf hin, dass Autos hier nur “zu Gast” sind.

 

Wie kann das gelingen? Die Gemeinde wird von einer Bahnlinie mit zwei Bahnhöfen im Ortsgebiet durchzogen, um die Gemeinde herum führt eine Ringstraße für den Autoverkehr mit Abzweigen in jedes Wohngebiet, sodass jeder Ort grundsätzlich auch mit dem Auto anfahrbar ist und Autos in der Nähe der Wohnungen abgestellt werden können. Innerhalb der Ringstraße jedoch sind die Wohnquartiere untereinander nur durch breit angelegte Wege für Menschen, die zu Fuß, per Fahrrad, Inliner, Skateboard oder sogar Moped unterwegs sind, verbunden. Möchte man mit dem Auto von einem Quartier in ein anderes fahren, führt der Weg über die Ringstraße. Auf den für den Autoverkehr freigegebenen Straßen innerhalb der Ringstraße haben Radfahr*innen und Fußgänger*innen trotzdem immer Vorrang. Die Beschilderung weist darauf hin, dass Autos hier nur “zu Gast” sind.

 

Uns wurde berichtet, dass das aktive Radfahralter um etwa zehn Jahre angehoben werden konnte.

 

Da das Radfahren in diesem Ambiente sehr angenehm und sicher ist, fahren hier Kinder ab circa acht Jahren selbständig mit dem Fahrrad zur Schule und zu ihren Freizeitaktivitäten. Auch für Senior*innen bieten die autoarmen und barrierefreien Wege die Möglichkeit, länger mit dem Fahrrad mobil zu bleiben. Uns wurde berichtet, dass das aktive Radfahralter um etwa zehn Jahre angehoben werden konnte. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Übergänge und Kreuzungen wirklich barrierefrei sind und dass es ausreichend Abstellmöglichkeiten für den ruhenden Radverkehr gibt - bei Wohngebäuden schreibt das Baugesetz beispielsweise barrierefreie Fahrradabstellplätze vor, die überwiegend in separaten Gebäuden oder Tiefgaragen zu finden sind. An den beiden Bahnhöfen befinden sich große, helle und kostenfreie Fahrradparkhäuser. Wir besuchten Houten an einem normalen Samstag Vormittag und konnten den Einkaufsverkehr an einem der Nahversorgungszentren beobachten: Sehr viele Menschen kamen mit Fahrrädern mit riesigen Packtaschen daran, einige mit Lastenrädern oder Anhängern -  oder auch mit dem Auto. Das ist problemlos möglich, da es bei den Einkaufszentren auch Parkraum für Autos gibt, teilweise öffentlich, teilweise im Eigentum des Einzelhandels. Eine Verkehrszählung der Gemeinde hat ergeben, dass in Houten 24 % der Fahrten zum Einkaufen mit dem Auto erledigt werden. 76 % verteilen sich auf Fahrrad-, Fuß- oder öffentlichen Nahverkehr.

In Utrecht, das aufgrund seiner Größe und gewachsenen Struktur im Innenstadtbereich nicht dieselben stadtplanerischen Möglichkeiten wie Houten hat, fiel uns gleich bei der Ankunft das elektronische Parkleitsystem auf, das auf freien Parkraum in Fahrradparkhäusern hinweist. Im Zentrum von Utrecht sind Fahrradtiefgaragenplätze für 30.000 Fahrräder verfügbar. Das größte Parkhaus am Bahnhof und an der Einkaufsmeile “Hoog Catharijne” kann alleine 12.500 Fahrräder aufnehmen und ist damit das größte der Welt. 

 

Die Ampeln in der Stadt sind separat für Auto, Rad und Fußgänger*innen und das Rad bekommt immer zuerst grün.

 

Die kleineren Straßen in Utrecht sind zum Teil zu Fahrradstraßen umgebaut worden, die größeren haben je Fahrtrichtung eine Fahrspur für Autos und eine ebenso breite für Fahrräder, die nicht gemeinsam mit Fußgänger*innen genutzt wird und farblich abgesetzt ist. Die Ampeln in der Stadt sind separat für Auto, Rad und Fußgänger*innen, wobei das Rad immer zuerst Grün bekommt, die Fußgänger*innen erst einige Sekunden später, wenn die Räder den Überweg bereits passiert haben.

 

Eine fahrradfreundliche Gemeinde ist auch eine menschenfreundliche Gemeinde.

 

Am Sonntag reisten wir zurück nach Wentorf und Börnsen, voll von Eindrücken und “Raderkenntnissen” aus dem “Fahrradwunderland” und mit der festen Überzeugung, dass das auch in Deutschland möglich ist, wenn der Wille da ist - und dass eine fahrradfreundliche Gemeinde auch eine menschenfreundliche Gemeinde ist. Erstaunlicherweise wird in den Niederlanden der Fokus auf Radverkehr nicht gleichgesetzt mit der Einschränkung persönlicher (Autofahr-) Freiheit, wie es unserem Eindruck nach hierzulande oft zu vernehmen ist. Die Niederländer*innen möchten sich in jeder Situation frei entscheiden, welchen Weg sie mit welchem Verkehrsmittel zurücklegen - und entscheiden sich dann oft für das bequemere, kostengünstigere und nahezu emmissionsfreie Fahrrad.

Birte Hildebrandt

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